Ist der Mensch ein homo oeconomicus, also ein rational berechnendes, auf die Maximierung seines eigenen Nutzen bedachtes Wesen? Ich finde mich selbst in dieser Beschreibung ebenso wenig wieder, wie ich den Menschen an sich nicht so verstehe. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass es sich bei der Figur des homo oeconomicus um ein Modell für mikro- und makroökonomische Theorien handelt. Die Frage ist, wie nah das Modell an der Realität ist. Ich glaube nicht, dass die Wirtschaft oder der Mensch nach einfachen, kausalen Gesetzen funktioniert. Spätestens wenn ich mir so hochkomplexe Vorgänge wie die Finanzkrise oder den wirtschaftlichen Wandel, der durch die Digitalisierung ausgelöst wird, anschaue, versagen die Modelle der betriebswirtschaftlichen Lehren.
Ich vertrete eine viel globalere, vielschichtigere Perspektive und empfinde die betriebswirtschaftliche Sicht auf die Dinge als zu eingeschränkt, ihre Modelle als zu eindimensional. Seit meinem Studium der Soziologie begleiten mich die Ideen der Denker dieses Fachs. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass sie mir viel schlüssigere Erklärungen in wirtschaftlichen Fragen liefern.
Einige halten sogar ganz praktische Anleitungen bereit, die mir in meinem beruflichen Alltag helfen, Vorgänge des Wandels besser zu verstehen und erfolgreich zu gestalten.
Das 3-Phasen-Modell von Kurt Lewin
Eine dieser soziologischen Theorien ist das 3-Phasen-Modell von Kurt Lewin. Ich finde, dass sich die Tragweite dieser Theorie nur vor dem biographischen Hintergrund Lewins richtig erschließt. Lewin ist jüdischer Herkunft und flieht schon sehr früh aus Deutschland und emigriert nach Amerika, wo er seine soziologischen Theorien weiterentwickelt. Schon lange vor Kriegsende beginnt er sich die Frage zu stellen, wie es mit Nazi-Deutschland nach dem verlorenen Krieg weitergehen kann. Sein zentrales Anliegen war: Wie kann es gelingen, die Menschen aus einem diktatorisch geführten Terror-Regime zu Bürger in einem demokratischen System zu machen?
Seine Überlegungen bildeten nicht nur die Grundlage für die sogenannte „Umerziehung“, die von der amerikanischen Militärverwaltung im Nachkriegs-Deutschland durchgeführt wurde. Sie liefert einen allgemeinen Erklärungsansatz, wie Menschen mit Wandel umgehen und wie der Wandel aktiv gestaltet werden kann. Das Modell funktioniert in drei Phasen: „unfreezing“, „removing“, „refreezing“. Der erste Schritt, das „unfreezing“, ist die Lösung vom Status quo. Wenn ein Mensch dann bereit ist, für die Aufnahme von neuen Inhalten, Verhaltensweisen etc. erfolgt die zweite Phase, das „removing“. Sind die neuen Verhaltensweisen erlernt, werden sie in der dritten Phase, dem „refreezing“, wieder verfestigt. Lewins Ausgangsfrage zeigt, wie radikal er den Wandel denkt und auf den seine Theorie eine Antwort bieten will. Ich halte seinen Lösungsansatz aus einem entscheidenden Grund für das Chancenmanagement für Anschlussfähig: er stellt den Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen.
Wandel geht nur mit Menschen
Wenn ich mir die Vorgehensweise von rein betriebswirtschaftlichem Chancenmanagement betrachte, fehlt oft der Mensch. Es geht um Analyse der Chance, die Abschätzung der Kosten und des wirtschaftlichen Nutzens, die Planung und Durchführung der Maßnahmen, Kontrolle des Erfolgs etc. Stillschweigend wird dabei davon ausgegangen, dass die Menschen in den Betrieben – allesamt Vertreter der Gattung homo oeconomicus – verstehen, dass es sinnvoll ist, eine Chance zu nutzen und sich entsprechend zu verändern. Die Wahrheit ist: Menschen lieben die Veränderung nicht. Wir sind Gewohnheitstiere. Meine Erfahrung lehrte mich, dass ein Wandlungsprozess nur funktioniert, wenn ich alle daran beteiligten Menschen frühzeitig einbinde. Sie sind es, die den Wandel vollziehen müssen.
Veränderung ist ein vieldimensionaler Prozess
Ein weiteres Manko des rein betriebswirtschaftlichen Chancenmanagements sehe ich in der Vernachlässigung der Rahmenbedingungen. Veränderungen im Ökosystem Wirtschaft ist ein komplexer, vieldimensionaler Vorgang. So zu tun, als würde immer wieder eine Chance am Horizont auftauchen, die zu nutzen ist, oder eine Gefahr, der begegnet werden muss, halte ich für eine Illusion. Wandel kann einfach passieren, indem sich zum Beispiel die Rahmenbedingungen ändern. Das kann durch Gesetzesänderungen geschehen, durch einen neuen Wettbewerber am Markt, der nach völlig anderen Regeln spielt oder durch die Einführung einer neuen Technologie. Das „Internet der Dinge“ ist eines dieser Phänomene, das die Rahmenbedingungen in der Wirtschaft in der kommenden Zeit vollständig verändern wird.
Chancenmanagement ist in Zeiten der Digitalisierung wichtiger denn je
Wenn ich mir die Herausforderungen von heute und die der Zukunft vor Augen halte, sehe ich Zeiten des kontinuierlichen Wandels. Wir befinden uns längst inmitten der digitalen Transformation. Sie betrifft alle Bereiche unseres Lebens und der Wirtschaft – einzelne Geschäftsmodelle, ganze Unternehmen und sogar gesamte Branchen stehen auf dem Prüfstand. Sind sie auf die Veränderungen eingestellt? Mich begeistert jeden Tag aufs neue, was uns die Digitalisierung bringt. Neue Technologien und innovative Ideen, die mein Leben erheblich einfacher und komfortabler machen.
Ich möchte Smartphones, Tablets, E-Reader, Social Media, Online Shopping, Airbnb etc. in meinem Leben nicht mehr missen. Ich halte Neuerungen für Chancen, die Positives bewirken, und nicht für eine Bedrohung. Chancenmanagement ist die Antwort, um den Wandel produktiv zu nutzen. Eine soziologische Perspektive halte ich für unerlässlich, wenn wir den Wandel gemeinsam mit den Menschen gestalten wollen.
[selectivetweet]#Chancenmanagement ist nur erfolgreich, wenn es den Menschen ins Zentrum stellt. #Digitalisierung[/selectivetweet]
Meine Lesart von Digitalisierung lautet, dass es sich nicht um einen Prozess handelt, der in ein paar Jahren oder Jahrzehnten an ein Ende gelangt und damit abgeschlossen ist. Ich halte die Digitalisierung vielmehr für einen offenen Prozess, der von uns immer wieder aufs Neue erfordert, uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das mag ihn in gewisser Hinsicht anstrengend machen. Ich finde aber, dass ihn gerade diese Eigenschaft so spannend macht. Für mich heißt das: Jeden Tag eine neue Chance zu entdecken, um die Dinge zum Positiven zu verändern.